Hintergrundinformation
Cyanotoxine
Einige Cyanobakterien produzieren Giftstoffe – Cyanotoxine – die das Trinkwasser belasten und eine Gesundheitsgefährdung bei der Freizeitnutzung von Gewässern darstellen können. Cyanotoxine lassen sich anhand ihrer Wirkungsweise in folgende Gruppen einteilen:
- Lebergifte (Hepatotoxine) wie Microcystine und Nodularin
- Zellgifte (Zytotoxine) wie Cylindrospermopsine
- Nervengifte (Neurotoxine) wie Anatoxine und Saxitoxine
- Hautgifte (Dermatoxine) wie Aplysiatoxin und Lyngbyatoxin
- Entzündlich wirkende Substanzen wie Lipopolysaccharide
Neben dieser Einteilung lassen sich Cyanotoxine auch anhand ihrer chemischen Eigenschaften gruppieren. Man unterscheidet Peptide (z.B. Microcystine), Alkaloide (z.B. Anatoxine) und Lipopolysaccharide.
Im folgenden finden Sie Informationen über die bekanntesten Cyanotoxine sowie deren Richtwerte.
Microcystine
Chemie. Microcystine (MC) sind cyclische Heptapeptide mit der charakteristischen Aminosäure ADDA (3-Amino-9-methoxy-2,6,8-trimethyl-10-phenyl-4,6-decadiensäure), die nur in Microcystinen und Nodularinen vorkommt. Bis heute sind über 200 Microcystin-Kongenere bekannt, also chemische Verbindungen mit der gleichen Grundstruktur, die sich vor allem durch den Austausch von Aminosäuren (vor allem an Position 2 und 4) sowie (De)Methylierungen an verschiedenen Stellen im Molekül unterscheiden. Dies bedingt auch die unterschiedliche Toxizität der einzelnen Varianten.
Microcystine sind chemisch sehr stabil und auch durch Kochen nicht zu zerstören.
Microcystine liegen in der Regel zellgebunden vor und werden nur beim Absterben der Zelle freigesetzt. Der biologische Abbau erfolgt, meist nach einer Verzögerung (engl. lag phase) von wenigen Tagen (bis max. 2 Wochen), mit Halbwertszeiten von 1-4 Tagen je nach Kongener.
Cyanobakterien. Microcystine werden vor allem von Vertretern der Gattungen Microcystis, Planktothrix, Dolichospermum, Anabaena sowie Nostoc produziert.
Cyanobakterien, die das Gen für die Microcystin-Produktion besitzen, synthetisieren immer Microcystin.
Toxizität. Tierversuche zur Akut-Toxizität von Microcystinen zeigen vor allem Schädigungen der Leber, aber auch des Dünndarms und der Nieren. Die Aufnahme von Microcystinen in die Zellen erfolgt über das Gallensäuretransportsystem, das sich vor allem in den Leberzellen und in geringem Umfang auch im Darmgewebe befindet. In der Leber schädigen Microcystine die Leberzellen und Leberkapillaren, und es kommt in Folge zu Blutungen in der Leber und schließlich zu Herzversagen und Tod. Der zugrunde liegende Mechanismus ist die spezifische und irreversible Hemmung der Proteinphosphatasen PP1 und PP2A durch Microcystine. Die LD50(i.p., 24h)–Werte liegen je nach Strukturvariante zwischen 50 (MC-LR) bis zu 600 (MC-RR) µg/kg Körpergewicht, die oralen LD50-Werte liegen deutlich höher (z.B. MC-LR 5000 µg/kg). Neben ihrer leberschädigenden Wirkung fördern Microcystine in Tierversuchen das Wachstum von Tumoren in Leber und Darm und sind von der IARC (2006) als possibly carcinogenic to humans (Gruppe 2b) eingestuft.
Microcystine gelten als Ursache für cyanotoxinbedingte Vergiftungen bei Menschen und Tieren weltweit. Dokumentiert sind z.B. Leberschäden von Menschen, deren Trinkwasser aus einem Rohwasser mit einer Microcystis-Blüte gewonnen wurde und Todesfälle von Dialysepatienten.
Richtwerte. Die WHO gibt vorläufige Richtwerte an, die zwar anhand von Microcystin-LR abgeleitet wurden, jedoch (als konservative Annahme) für die Summe aller in einer Probe vorhandenen Microcystin-Kongenere angewendet werden können (mangels ausreichender toxikologischer Daten für die anderen Kongenere):
• für Trinkwasser 1 µg/l für die lebenslange tägliche Exposition und 12 µg/l für kurzzeitige Exposition (täglich max. über 2 Wochen, jedoch nicht mehrfach pro Saison wiederholt);
• für Badegewässer 24 µg/l .
Mehr Informationen zur Ableitung der Richtwerte finden Sie hier.
Microcystin-LR
Nodularine
Chemie. Nodularine (NOD) sind cyclische Pentapeptide und besitzen wie Microcystine die ß-Aminosäure ADDA (3-Amino-9-methoxy-2,6,8-trimethyl-10-phenyl-4,6-decadiensäure). Insgesamt sind nur wenige Nodularin-Kongenere nachgewiesen, wobei die Strukturvariante Nodularin-R am häufigsten vorkommt.
Cyanobakterien. Nodularine werden v.a. vom Cyanobakterium Nodularia spumigena produziert, welches weltweit in Brackwasser vorkommt.
Toxizität. Nodularine sind ebenfalls hepatotoxisch und hemmen die Proteinphosphatasen PP1 und PP2A. Zusätzlich wird Nodularin als karzinogen und tumorfördernd eingestuft.
Richtwert. Für die Ableitung eines Richtwertes für Nodularin fehlen ausreichend toxikologische Daten, jedoch kann aufgrund der strukturellen sowie toxikologischen Ähnlichkeit zwischen Microcystin und Nodularin bei Bedarf ggf. der Microcystin-Richtwert als eine erste Näherung dienen. Neuseeland verwendet 1 µg/L zur Orientierung.
Nodularin-R
Cylindrospermopsine
Chemie. Cylindrospermopsin (CYN) ist ein Alkaloid bestehend aus einer trizyklischen Guanidingruppe in Verbindung mit Hydroxymethyluracil. Vier Strukturvarianten sind bekannt, 7-epi-CYN, 7-deoxy-CYN, 7-deoxy-desulfo-CYN and 7-deoxy-desulfo-12-acetyl-CYN. Als Zwitterion ist es sehr wässerlöslich. CYN ist über einen großen pH-Bereich stabil und kann auch nicht durch Kochen zerstört werden. Im Freiland kommt es zellgebunden, aber oft auch überwiegend gelöst im Wasser vor und zeigt auch dort oft eine hohe Persistenz. In einigen Fällen wurde der biologische Abbau von CYN beobachtet, wobei hierfür vor allem die Temperatur sowie der pH-Wert maßgeblich scheinen.
Cyanobakterien. Cylindrospermopsin kann von (meist nostocalen) Cyanobakterien wie Raphidiopsis (form. Cylindrospermopsis) raciborskii, Raphidiopsis sp., Aphanizomenon gracile, Chrysosporum (form. Aphanizomenon) ovalisporum, Aphanizomenon flos-aquae und Umezakia natans produziert werden.
Toxizität. Akute Intoxikation durch Cylindrospermopsin führt vor allem zu Leberschäden, aber auch andere Organe wie Nieren, Lunge, Herz und Nebenniere sind betroffen. Der zugrunde liegende Mechanismus ist die spezifische und irreversible Hemmung der Proteinbiosynthese, und zudem ist die Toxizität durch Cytochrome P450 beeinflusst. Cylindrospermopsin ist gentoxisch und es gibt Hinweise auf Karzinogenität.
Der LD50–Wert liegt für CYN für einmalige Exposition bei 2100 µg/kg, bei täglicher Exposition über 7 Tage bei 200 µg/kg Körpergewicht, und auch hier ist der orale LD50–Wert deutlich höher (5000 µg/kg). 7-epi-CYN und 7-deoxy-CYN scheinen ähnlich toxisch wie CYN.
Richtwerte. Die WHO gibt folgende vorläufige Richtwerte für Cylindrospermopsin an:
• für Trinkwasser 0,7 µg/l für die lebenslängliche tägliche Exposition und 3 µg/l für kurzzeitige Exposition (täglich max. über 2 Wochen, jedoch nicht mehrfach pro Saison wiederholt)
• für Badegewässer 6 µg/l
Auch für CYN schlägt die WHO vor, ihre anhand von CYN abgeleiteten Richtwerte für alle Strukturvarianten (d.h. auch auf deren Summe in einer Probe) anzuwenden. Mehr Informationen zur Ableitung der Richtwerte finden Sie hier.
Cylindrospermopsin
Anatoxine
Chemie. Anatoxin-a (ATX-a) und Homoanatoxin-a (HATX-a) sowie deren Dihydro-Varianten sind bizyklische Amine. Anatoxin-a(S) ist ein natürliches Organophosphat.
Cyanobakterien. ATX-a und HATX-a sowie deren Dihydro-Varianten können von verschiedenen Cyanobakterien der Gattungen Dolichospermum, Anabaena, Oscillatoria, Phormidium, Microcoleus, Tychonema, Aphanizomenon, Cylindrospermum synthetisiert werden. Anatoxin-a(S) wurde bislang nur in Dolichospermum gefunden.
Toxizität. ATX-a und HATX-a sowie deren Dihydro-Varianten wirken als Analoga des Acetylcholin, d.h. sie übertragen Reize zwischen Nerv und Muskel. Da diese Cyanotoxine jedoch nicht von der Acetylcholinesterase abgebaut werden, kommt es bei einer akuten Vergiftung zu einer Überstimulation und Lähmung von Muskeln und schließlich zum Atemstillstand. Die LD50–Wert für Anatoxin-a und Homoanatoxin-a liegen bei 300-650 µg/kg (i.p.), die oralen LD50–Wert höher (~ 3000-6000 µg/kg); erste Studien weisen für die Dihydro-Varianten von ATX-a und HATX-a auf ähnliche Größenordnungen der Toxizität hin.
Anatoxin-a(S) hemmt die Acetylcholinesterase und führt so zu Lähmung der Atemmuskeln. Der LD50(i.p.)–Wert beträgt 20 µg/kg.
Keine anderen Effekte als die reine Neurotoxizität wurden in akuten, kurzzeitigen und sub-chronischen Expositionsversuchen beobachtet.
Richtwerte. Aufgrund der unzureichenden Datenlage kann kein Richtwert für ATX und deren Derivate abgeleitet werden. Die WHO gibt jedoch vorläufige gesundheits-basierte Leitwerte für Anatoxin
• für Trinkwasser 30 µg/l für akute und kurzzeitige Exposition (ohne Definition von „kurzzeitig“, aber mit Hinweis, dass dieser Wert auf der Dosis beruht, die in einem 28-tägigen Tierversuch keinerlei Schäden beobachtet wurden); zur Vorsorge empfiehlt sie für die Zubereitung von Säuglingsnahrung 6 µg/L;
• für Badegewässer 60 µg/l.
Auch für ATX-a, HATX-A und deren Dihydro-Varianten schlägt die WHO vor, ihren anhand von ATX-a abgeleiteten Leitwert für alle Strukturvarianten (d.h. auch auf deren Summe in einer Probe) anzuwenden. Mehr Informationen zur Ableitung der Richtwerte finden Sie hier.
Kanada und Neuseeland geben Orientierungswerte für Anatoxin-a im Trinkwasser von 3.7 bzw. 6 µg/L an; für Anatoxin-a(S) gibt Neuseeland 1 µg/L an. Die WHO gibt für Anatoxin-a(S) angesichts fehlender toxikologischer Daten keinen Leit- oder Richtwert an.
Paralytic Shellfish Poisons
Chemie. Paralytic Shellfish Poisons (PSP) sind eine Gruppe von neurotoxischen Alkaloiden, von denen es mehr als 20 Kongenere gibt. Sie wurden ursprünglich aus Muscheln isoliert und werden auch – nach dem ersten dieser Toxine – Saxitoxine genannt.
Cyanobakterien. Die Produktion von PSPs wurde bei Cyanobakterien der Gattungen Aphanizomenon, Dolichospermum, Lynbya und Cylindrospermopsis nachgewiesen.
Toxizität. PSPs unterbrechen die Signalleitung zwischen Nerven und Muskeln und führen in ausreichend hoher Konzentration bei Menschen und Tieren zum Tod durch Atemlähmung. Beim Menschen werden diese Gifte relativ schnell wieder ausgeschieden, so dass chronische Effekte von PSPs unwahrscheinlich sind. Der LD50 (i.p.)–Wert von Saxitoxin beträgt 10 µg/kg, der orale LD50 liegt bei ~230 µg/kg.
Bisher gibt es keinen Hinweis auf eine Vergiftung von Menschen mit Wasser, das PSP- produzierende Cyanobakterien enthält, jedoch werden Todesfälle bei Tieren auf PSP aus Cyanobakterien zurückgeführt. Risiken durch diese Toxine sind daher nicht auszuschließen, insb. im Falle der Aufnahme hoher Mengen an „Blaualgenblüte“ bei der Freizeitnutzung stark belasteter Gewässer und im Zusammenhang mit „Beinahe-Ertrinken“.
Richtwerte. Die WHO verwendete bei ihrer Ableitung von Richtwerten für Saxitoxine (anders als bei MCs und CYN) nicht in erster Linie die Ergebnisse von Tierversuchen, sondern Humandaten aus Muschelvergiftungen; somit bezieht sich das Schutzniveau auf akute Intoxikation. Die WHO gibt für Saxitoxine folgende Richtwerte an:
• für Trinkwasser 3 µg/l –Kurzzeitwert explizit für akute Exposition und für das Körpergewicht und die Flüssigkeitsaufnahme ungestillter Säuglinge gerechnet;
• für Badegewässer 30 µg/l.
Mehr Informationen zur Ableitung der Richtwerte finden Sie hier.
Orientierungswerte für Saxitoxin im Trinkwasser (als STX-Äquivalente) in Brasilien, Kanada und Neuseeland betragen 3 µg/L.
Saxitoxin

Saxitoxin
Lynbyatoxin und Aplysiatoxin
Chemie. Lynbyatoxin-a, Aplysiatoxin und Debromoaplysiatoxin sind Alkaloide. Der Name Aplysiatoxin nimmt Bezug auf die Meeresschnecke Aplysia californica, die Cyanobakterien aufnimmt und das Toxin zur Abwehr gegen Feinde einsetzt.
Cyanobakterien. Aplysiatoxin und Debromoaplysiatoxin wurden in verschiedenen marinen Vertretern der Gattungen Lyngbya, Schizothrix und Oscillatoria nachgewiesen. Lynbyatoxin-a wird von Lyngbya majuscula produziert.
Toxizität.
Aplysiatoxine lösen bei Kontakt Hautreizungen aus. Es besteht der Verdacht, dass Aplysiatoxine tumorfördernd sind und die Proteinkinase C aktivieren.
Lynbyatoxin-a löste ebenfalls schwere Dermatiden aus („seaweed dermatitis“), ist ein Tumorpromotor und aktiviert die Proteinkinase C.
Richtwerte. Es gibt keine Leit- oder Richtwerte für Lynbyatoxin und Aplysiatoxin.
Lyngbiatoxin und Aplysiatoxin
Lipopolysaccharide
Chemie. Lipopolysaccharide (LPS) oder Endotoxine sind große Moleküle bestehend aus einem Zucker-Lipid-Kondensat. Sie sind Hauptbestandteile der äußeren Membran von gram-negativen Bakterien, und somit auch von Cyanobakterien.
Cyanobakterien. Alle Cyanobakterien.
Toxizität. Lipopolysaccharide von gram-negativen Bakterien (wie Salmonella typhii) können schwere physiopathologsiche Effekte wie Fieber, multiples Organversagen und septischen Schock auslösen. Studien zur Toxizität der Lipopolysaccharide von Microcystis, Dolichospermum, Cylindrospermopsis und Phormidium legen jedoch nahe, dass die LPS dieser Cyanobakterien deutlich weniger toxisch sind als die LPS von anderen gram-negativen Bakterien. Es gibt auch keine eindeutigen Hinweise, dass cyanobakterielle LPS für die unspezifischen Symptome wie (Schleim)Hautreizungen, gastrointestinale Beschwerden etc. im Zusammenhang mit Cyanobakterienkontakt verantwortlich sind.
Richtwerte. Es gibt keine Leitwerte für LPS.
Beta-Methylamino-L-Alanin
Beta-methylamino-L-alanine (BMAA) ist eine nicht-proteinogene Aminosäure. Bei widersprüchlichen Ergebnissen der toxikologischen Studien weisen einige Untersuchungen Exposition gegenüber extrem hoher Dosis auf eine Neurotoxizität von BMAA hin. Auch der Zusammenhang zwischen einer Exposition von BMAA und der Entstehung von neurodegenerativen Krankheiten wie des Amyothrophen–Lateralsklerosis Parkinson-Demenz-Komplexes (ALS-PDC) wird kontrovers diskutiert. Zudem zeichnet sich ab, dass Cyanobakterien – ursprünglich als BMAA Produzenten eingestuft – wenig bis kein BMAA enthalten und somit ein Expositionsszenarium über Baden oder Trinkwasser eher unwahrscheinlich ist.
Für eine umfassende Risikobewertung von BMAA für die Trink- und Badewasserhygiene fehlen somit vor allem toxikologische Standardtests mit oraler Exposition, aber auch eine breite Datenbasis zum Vorkommen von BMAA in Gewässern sowie zum Verhalten von BMAA in der Trinkwasseraufbereitung.

Beta-Methylamino-L-Alanin
[1] LD50
LD50 (LD = lethal dosis) ist die Wirkstoffdosis, bei der 50 % der Versuchsorganismen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes sterben.
[2] i.p.
intraperitoneal = Injektion in die Bauchhöhle
[3] Leitwert
Leitwerte sind gesundheitlich begründet, der Kenntnisstand reicht jedoch nicht für einen toxikologisch begründeten Richtwert. Rechtlich nicht verbindlich.
[4] Richtwert (WHO)
Richtwerte der WHO basieren auf mindestens zwei unabhängigen, ausreichend umfassenden toxikologischen Datensätzen. Die WHO betont ihren empfehlenden Charakter für die (ggf. abweichende) Setzung nationaler Grenzwerte, die je nach Prioritäten für den Gesundheitsschutz ggf. auch höher liegen können. Als „vorläufig“ bezeichnet die WHO ihre Richtwerte, wenn die toxikologischen Daten Lücken aufweisen, z.B. keinen vollen Lebenszyklus der Versuchstiere abbilden.